Psychologische Sicherheit – Eine Grundlage für Kreativität

Kreativität

Der Begriff „Psychologische Sicherheit“ ist heute in vielen Unternehmen und Teams in aller Munde – dabei ist er alles andere als neu. Bereits 1954 hat der amerikanische Psychologe und Psychiater Carl R. Rogers (1902 – 1997) in seinem Aufsatz „Toward a Theory of Creativity“  im Journal „ETC: A Review of General Semantics“ [https://www.jstor.org/stable/42581167] psychologische Sicherheit als eine zentrale Voraussetzung für kreatives Denken und Handeln beschrieben.

Doch was verstand Rogers unter psychologischer Sicherheit – und warum ist sie für kreatives Arbeiten so entscheidend?

Kreativität braucht Sicherheit

Carl Rogers war überzeugt: Kreativität entsteht nicht einfach so. Sie braucht ein Umfeld, das es Menschen erlaubt, sich auszuprobieren, Fehler zu machen, anders zu sein – ohne Angst vor Zurückweisung oder Bewertung. Nur so können sie ihr inneres Potenzial entfalten und wirklich Neues hervorbringen.

Psychologische Sicherheit beschreibt genau dieses Umfeld: ein Klima, in dem Menschen sie selbst sein dürfen, ohne sich verstellen zu müssen. Rogers beschreibt drei Bedingungen, die ein solches Klima ermöglichen:

1. Bedingungslose Wertschätzung

Der erste Schritt zu psychologischer Sicherheit beginnt mit einer inneren Haltung: dem festen Glauben daran, dass jeder Mensch – unabhängig von seiner Leistung, seinem Verhalten oder seinen Schwächen – als wertvoll betrachtet wird.

Ob als Führungskraft, Coach, Elternteil oder Lehrperson: Wenn ich dem anderen dieses Vertrauen entgegenbringe, erkenne ich seine Potenziale und eröffne ich einen Raum, in dem er wachsen kann. Die Erfahrung, nicht ständig an äußeren Kriterien gemessen zu werden, sondern als Mensch angenommen zu sein, senkt die innere Abwehr. Menschen, die sich sicher fühlen, beginnen, sich auszuprobieren, sich zu zeigen – und bewegen sich in Richtung Kreativität.

2. Freiheit von Bewertung

Bewertungen – selbst gut gemeinte – sind oft subtil bedrohlich. Sie führen dazu, dass Menschen sich anpassen, ihre Impulse zurückhalten oder ihre wahren Gedanken verstecken.

Rogers schreibt:

Sobald ich glaube, etwas „müsste gut sein“, darf ich mir mein Unbehagen nicht mehr eingestehen. Wenn etwas „als schlecht gilt“, kann ich nicht mehr spüren, dass es sich für mich richtig anfühlt.

Ein bewertungsfreier Raum bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern authentische Reaktion statt Urteil.

Ein Unterschied, der in seiner Wirkung enorm ist:

  • „Ich mag deine Idee nicht“ – ist eine persönliche Reaktion, eine Ich-Aussage.
  • „Das ist schlecht“ – ist ein externes Urteil, das meine Selbstwahrnehmung untergräbt.

Wo Bewertung wegfällt, entsteht Raum für Wahrhaftigkeit. Ich kann differenzierter wahrnehmen, was in mir lebt, meine Vorlieben entdecken, mich orientieren – und meine ganz eigene Stimme finden. Genau das ist die Basis für kreative Ausdruckskraft.

3. Einfühlendes Verstehen

Am tiefsten wirkt psychologische Sicherheit dort, wo echtes Verstehen geschieht. Nicht das schnelle „Ich akzeptiere dich“, sondern die Bereitschaft, den anderen wirklich zu sehen – mit seinen Gefühlen, Gedanken, Ängsten, Ideen. Wenn ich mich in die Welt eines anderen hineinversetze und ihn trotzdem annehme, entsteht ein Vertrauensraum, in dem echtes Wachstum möglich ist.

Rogers beschreibt diese empathische Haltung als zentralen Nährboden für Kreativität. Denn nur, wenn ich mich nicht schützen oder inszenieren muss, kann ich mein echtes Selbst zeigen – und neue Formen des Denkens, Fühlens und Handelns wagen.

Psychologische Freiheit – Die andere Seite der Medaille

Eng verwandt mit psychologischer Sicherheit ist, was Rogers psychologische Freiheit nennt: Die Erlaubnis, das eigene Innere frei zum Ausdruck zu bringen – in Gedanken, Gefühlen, Symbolen, Sprache, Kunst oder Spiel.

Wichtig: Es geht nicht darum, jedem inneren Impuls im Verhalten nachzugeben. Natürlich brauchen wir gesellschaftliche Regeln und Grenzen. Doch unser symbolischer Ausdruck – sei es ein Gedicht, ein Bild, ein Gedanke – sollte frei fließen dürfen.

Diese Freiheit, sich symbolisch auszudrücken, bedeutet nicht Nachsicht oder Willkür. Sie ist die Erlaubnis, frei zu sein – und gleichzeitig die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

  • Ich darf Angst haben – oder Begeisterung spüren.
  • Ich darf scheitern – und daraus lernen.
  • Ich darf erfolgreich sein – ohne mich zu rechtfertigen.

Diese Art von innerer Freiheit ermöglicht es, einen sicheren inneren Bewertungsmaßstab zu entwickeln – jenen inneren Kompass, der uns sagt, ob etwas zu uns passt, wahrhaftig ist, stimmig. Und genau dieser Kompass ist das Fundament für konstruktive, schöpferische Kreativität.

Kreativität beginnt mit Vertrauen

Carl Rogers macht deutlich: Kreativität ist keine exklusive Gabe weniger, sondern ein Potenzial, das in jedem Menschen steckt. Doch dieses Potenzial entfaltet sich nicht durch Druck, Bewertung oder Kontrolle – sondern durch ein Umfeld, das Sicherheit und Freiheit bietet.

  • Psychologische Sicherheit erlaubt es Menschen, sich ohne Angst zu zeigen.
  • Psychologische Freiheit gibt ihnen die Erlaubnis, ihr Innerstes auszudrücken.

Was Rogers bereits 1954 formulierte, wurde in den letzten Jahren durch eine Vielzahl moderner Studien bestätigt. Rogers war seiner Zeit also weit voraus. Doch er belässt es nicht bei einer theoretischen Betrachtung:

Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes – „Die Theorie in die Praxis überführen“ – schlägt er sieben konkrete Hypothesen vor, um seine Annahmen wissenschaftlich zu überprüfen. Die Hypothesen 4 bis 7 beziehen sich direkt auf die Wirkung psychologischer Sicherheit und Freiheit und fordern dazu auf, kreative Rahmenbedingungen gezielt zu gestalten, zu beobachten und zu untersuchen.

Besonders bemerkenswert ist dabei sein ausdrücklicher Wunsch, dass diese Theorie weitergedacht und erforscht wird – in Kunstklassen, in der Bildung, in der Industrie, im Militär oder in jeder Art von Gruppe.

Heute – 70 Jahre später – hat die Forschung genau das getan: Sie hat Rogers’ Überzeugungen vielfach bestätigt und seine Impulse weiterentwickelt.

Seine Botschaft ist heute aktueller denn je:

  • Wer kreative Menschen will, muss zuerst sichere Räume schaffen.
  • Räume, in denen Menschen sich zeigen dürfen – ohne Angst, ohne Urteil, mit Vertrauen.
  • Denn wo Vertrauen herrscht, entsteht Freiheit. Und wo Freiheit herrscht, entsteht Neues.

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