Der Sozialwissenschaftler Timothy R. Clark hat im Jahr 2020 in seinem Buch The 4 Stages of Psychological Safety ein Modell vorgestellt, das beschreibt, wie psychologische Sicherheit in Teams und Organisationen entsteht und gezielt gefördert werden kann.
Immer mehr Unternehmen erkennen mittlerweile, wie wichtig eine Kultur ist, in der Menschen sich sicher fühlen, ihre Ideen einbringen können, Neues auszuprobieren dürfen und zeigen können, was in ihnen steckt.
Genau hier setzt nach Clark die psychologische Sicherheit an: Sie beschreibt eine Umgebung, in der Offenheit und Verletzlichkeit nicht bestraft, sondern belohnt werden. Eine solche Kultur schafft Raum für Zugehörigkeit und bildet einen fruchtbaren Boden für echte Innovation.
Clarks Modell beruht auf einem einfachen Prinzip:
So wie wir zum Überleben Wasser, Nahrung und Schutz brauchen, brauchen Teams zum Wachsen und Innovieren nach Clark vier psychologische Grundbedürfnisse:
- Dazugehören dürfen – Inclusion Safety
- Lernen dürfen – Learner Safety
- Beitragen dürfen – Contributor safety
- Hinterfragen dürfen – Challenger Safety
Diese vier Stufen bilden für ihn die Grundlage für psychologische Sicherheit und damit für leistungsfähige, kreative und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Psychologische Sicherheit ist die Basis für eine Arbeitskultur, in der Menschen sie selbst sein dürfen und dadurch echten Mehrwert schaffen können. Es geht dabei nicht primär darum, sich „wohlzufühlen“. Es geht um ein Umfeld, in dem Menschen offen sprechen, Ideen einbringen und auch Fehler machen dürfen ohne Angst vor Ablehnung oder negativen Folgen.
Wo psychologische Sicherheit herrscht, entstehen Vertrauen, Mut und Zusammenarbeit. Das führt zu mehr Engagement, mehr Kreativität und besseren Ergebnissen.
Das Modell
Timothy Clark beschreibt in seinem Modell vier aufeinander aufbauende Stufen, die gemeinsam psychologische Sicherheit schaffen:

- Inklusionssicherheit – Ich darf dazugehören.
- Lernsicherheit – Ich darf fragen, lernen und Fehler machen.
- Beitragssicherheit – Ich darf mein Wissen und meine Ideen einbringen.
- Herausforderersicherheit – Ich darf den Status quo hinterfragen und Neues vorschlagen.
Jede Stufe baut dabei auf der vorherigen auf. Gemeinsam bilden sie ein Fundament für Vertrauen, Zusammenarbeit und Innovation in Teams und Organisationen.
1. Inklusionssicherheit – Ich darf dazugehören
Inklusionssicherheit ist die erste Stufe psychologischer Sicherheit. Sie bedeutet: Ich werde als Mensch akzeptiert – so wie ich bin. Wenn Menschen sich zugehörig fühlen, bringen sie sich mehr ein, teilen ihre Ideen und übernehmen Verantwortung.
Eine Kultur der Inklusion entsteht, wenn Teams Vertrauen aufbauen, offen miteinander sprechen und Diversität wertschätzen. Das gelingt, wenn Führungskräfte und Kollegen respektvoll miteinander umgehen und die Unterschiede in Herkunft, Erfahrung und Perspektive bewusst anerkennen. So entsteht die Grundlage dafür, dass psychologische Sicherheit gedeihen kann.
Niemand darf aufgrund seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Religion, Weltanschauung, Behinderung, seines Alters oder seiner sexuellen Orientierung ausgeschlossen werden. Eine inklusive Kultur stellt sicher, dass Diskriminierung in jeglicher Form aktiv bekämpft wird und jede:r die gleichen Chancen hat, sich einzubringen und wertgeschätzt zu werden.
Dabei geht es nicht darum, ob ein Mensch „würdig“ ist, dazu zu gehören – sondern darum, seinen inneren Wert als Mensch anzuerkennen. Inklusion basiert auf dem Grundsatz, dass jeder Mensch Wertschätzung verdient und Teil der Gemeinschaft sein darf.
Inklusionssicherheit stillt das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Verbindung und Zugehörigkeit. Egal ob in der Schule, bei der Arbeit, zu Hause oder in einem anderen sozialen Umfeld – jeder Mensch möchte akzeptiert werden. Genauer gesagt: Er muss akzeptiert werden – das kommt sogar vor dem Wunsch, gehört zu werden.
Wenn andere uns in ihre Gemeinschaft einladen, entwickeln wir ein Gefühl von gemeinsamer Identität – und die Überzeugung, dass wir eine Rolle spielen und wichtig sind. Inklusionssicherheit lässt uns spüren, dass wir Teil einer sozialen Einheit sind und ohne Angst vor Ablehnung oder Demütigung mit anderen interagieren können. Das stärkt unser Selbstvertrauen – und unsere Leistung.
Was passiert aber, wenn einem diese grundlegende Akzeptanz und Anerkennung als Mensch verwehrt bleibt? Nun – das ist zerstörerisch, oder? Es aktiviert die Schmerzzentren im Gehirn. Es verursacht Traumata.
Anderen Inklusionssicherheit zu geben, ist eine moralische Verpflichtung. Nur wenn ein Schaden droht, können wir uns dieser Verantwortung entziehen. Wenn wir also Inklusionssicherheit für andere schaffen – unabhängig von Unterschieden – dann erkennen wir unsere gemeinsame Menschlichkeit an und lehnen falsche Theorien von Überlegenheit sowie jede Form von überheblichem Elitismus ab.
Wir versuchen nicht, Unterschiede zu beseitigen oder zu neutralisieren. Dieser Prozess nennt sich Entwurzelung – und er funktioniert nie. Wenn wir den Ausschluss eines Menschen mit demografischen oder psychologischen Merkmalen rechtfertigen wollen – was tun wir da? Wir wenden einen illegitimen Würdigkeitstest auf diesen Menschen an. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Werttest – kein Würdigkeitstest. Mit anderen Worten: Wir schließen diesen Menschen ein – basierend auf seinem inneren, menschlichen Wert.
Das Ziel ist es, unsere Unterschiede anzuerkennen, zu schätzen und zu schützen. Deshalb ist Inklusionssicherheit nichts, das man sich verdienen muss. Es ist etwas, das einem zusteht. Ein Anrecht – und ich verwende dieses Wort ganz bewusst.
Timothy R. Clark – Inclusion Safety
2. Lernsicherheit – Ich darf lernen und Fehler machen
Lernsicherheit bedeutet: Ich darf Fragen stellen, Risiken eingehen, Neues ausprobieren und Fehler machen – ohne Angst. Wer sich beim Lernen sicher fühlt, ist mutiger, neugieriger und eher bereit, sich weiterzuentwickeln. Dafür braucht es eine Kultur, die Neugier fördert, Fehler als Lernchancen sieht und Lernen selbstverständlich macht.
Führungskräfte spielen eine wichtige Rolle: Sie geben ehrliches, unterstützendes Feedback, begleiten Lernprozesse – und schaffen ein Umfeld, in dem niemand Angst haben muss, etwas nicht zu wissen. So entsteht Raum für echtes Wachstum, neue Ideen und Veränderung.
Lernsicherheit stillt das grundlegende menschliche Bedürfnis, zu lernen und zu wachsen. Sie ermöglicht es uns, uns während aller Phasen des Lernprozesses sicher zu fühlen – beim Fragenstellen, beim Geben und Empfangen von Feedback, beim Ausprobieren.
Und sogar beim Fehler machen? Nicht ob, sondern wann wir Fehler machen – denn wir alle machen unseren Anteil davon. Und wir alle bringen ein gewisses Maß an Hemmung und Angst in den Lernprozess mit. Wir alle haben unsere Unsicherheiten – wer hat nicht schon gezögert, in einer Gruppe die Hand zu heben, um eine Frage zu stellen, aus Angst, dumm dazustehen? Die Hand geht hoch – und dann sagt man sich: Nein doch nicht. Und lässt es bleiben.
Lernen ist sowohl intellektuell als auch emotional. Es ist ein Zusammenspiel von Kopf und Herz. Wenn wir Lernsicherheit spüren, sind wir eher bereit, uns verletzlich zu zeigen, Risiken einzugehen und im Lernprozess Widerstandskraft zu entwickeln. Fehlt dagegen die Lernsicherheit, wird unser Instinkt zur Selbstzensur aktiviert – wir machen dicht, ziehen uns zurück und versuchen, persönliches Risiko zu vermeiden. Wenn wir Lernsicherheit für andere schaffen, geben wir Ermutigung zum Lernen – im Austausch gegen die Bereitschaft zu lernen.
Lass mich eine Frage stellen: Wurdest du jemals herabgewürdigt, klein gemacht, bloßgestellt oder hart kritisiert, als du versucht hast zu lernen? Wenn so etwas immer wieder passiert – wenn deine Verletzlichkeit im Lernprozess bestraft statt belohnt wird – dann wirst du schließlich zu einem „verletzten Lernenden“. Und leider: Ein verletzter Lernender ist ein kognitiv beeinträchtigter Lernender. Du kannst dann nicht mit voller Kapazität lernen. Wenn deine Verletzlichkeit im Lernprozess aber belohnt wird, beschleunigt sich dein Lernen. Du wirst zu einem selbstbewussten und mutigen Lernenden.
Timothy R. Clark – Learner Safety
3.Beitragssicherheit – Ich darf mein Wissen und meine Ideen einbringen.
Beitragssicherheit bedeutet: Ich darf meine Ideen, mein Wissen und meine Perspektiven einbringen – ohne Angst, abgewertet zu werden. Wer sich sicher fühlt, beizutragen, denkt mit, stellt Bestehendes infrage und entwickelt neue Lösungen.
Organisationen fördern Beitragssicherheit, wenn sie Ideenvielfalt begrüßen, offen diskutieren und Zusammenarbeit stärken. Führungskräfte spielen dabei eine Schlüsselrolle: Sie hören aktiv zu, holen unterschiedliche Sichtweisen ein und machen Beiträge sichtbar und wirksam. So entsteht eine Kultur, in der Menschen sich trauen, Verantwortung zu übernehmen – und wirklich etwas zu bewegen.
Beitragssicherheit stillt das grundlegende menschliche Bedürfnis, etwas beizutragen und einen Unterschied zu machen. Wenn Beitragssicherheit vorhanden ist, fühlen wir uns sicher, als vollwertiges Mitglied des Teams mit unseren Fähigkeiten und Stärken am Wertschöpfungsprozess teilzunehmen. Wir bringen uns mit Energie und Begeisterung ein. Wir haben ein natürliches Bedürfnis, das Gelernte anzuwenden – um einen sinnvollen Beitrag zu leisten.
Jeder Mensch, den ich kenne, möchte etwas beitragen. Sie wollen ihren Teil leisten. Nicht nur dabei sein, sondern mitwirken. Beitragssicherheit bedeutet, die Gelegenheit zu bekommen, seinen Beitrag leisten zu dürfen.
Warum mögen wir Mikromanager nicht? Weil sie uns nicht die Freiheit und Entscheidungsfreiheit geben, unser Potenzial zu entfalten. Sie bremsen uns, hemmen unser Wachstum, stehen uns im Weg.
Und warum mögen wir Führungskräfte, die uns ermächtigen? Weil sie uns ermutigen und unser Bestes zum Vorschein bringen. Sie helfen uns, besser zu leisten, als wir selbst es für möglich gehalten hätten.
Je mehr wir beitragen, desto mehr Selbstvertrauen und Kompetenz entwickeln wir. Wir nehmen teil an dem, was wir einen Erfolgskreislauf nennen: Unsere Leistung – unser Beitrag – wird zu einer Belohnung an sich. Wenn wir Beitragssicherheit für andere schaffen, geben wir ihnen Autonomie, Orientierung und Ermutigung – im Austausch für ihren Einsatz und ihre Ergebnisse.
Timothy R. Clark – Contributor Safety
4. Herausforderersicherheit – Ich darf den Status quo hinterfragen und Neues vorschlagen
Herausforderersicherheit ist die höchste Stufe psychologischer Sicherheit. Sie bedeutet: Ich darf sagen, wenn etwas nicht gut läuft und neue Wege vorschlagen.
In einem solchen Umfeld fühlen sich Menschen sicher genug, den Status quo zu hinterfragen, Kritik zu üben und Veränderungen anzustoßen. Das macht sie zu wichtigen Treibern für Innovation und Weiterentwicklung. Damit das gelingt, braucht es eine Kultur, in der Offenheit, Feedback und Veränderung willkommen sind. Führungskräfte sollten Mut fördern: zum Nachfragen, zum Andersdenken, zum Verbessern. Wo konstruktive Kritik erwünscht ist und Wandel willkommen ist, entfalten Teams ihr volles Potenzial.
Herausforderersicherheit stillt das grundlegende menschliche Bedürfnis, Dinge zu verbessern. Sie gibt uns die Unterstützung und das Vertrauen, Fragen zu stellen wie: „Warum machen wir das auf diese Weise?“ – „Was wäre, wenn wir es mal so versuchen würden?“ – oder: „Darf ich einen besseren Weg vorschlagen?“
Herausforderersicherheit bedeutet, dass wir den Status quo infrage stellen dürfen, ohne Vergeltung fürchten oder unseren Ruf riskieren zu müssen. Tatsächlich: Wer den Status quo hinterfragt, wird sogar belohnt.
Und was sieht man in Teams, die Herausforderersicherheit leben? Ich glaube, man sieht Folgendes: Divergentes Denken, konstruktiven Widerspruch, eine höhere Toleranz für Offenheit, kreative Reibung und klare, direkte Gespräche.
Wichtig: Das Feld der Herausforderersicherheit ist das Feld der Innovation. Intellektuelle Reibung wird hier zum Rohstoff – für Problemlösungen, neue Ideen, Durchbrüche und echte Innovationen. Und wenn deine Organisation ist wie die meisten, brauchst du Innovation – sie ist das Lebenselixier von Wachstum.
Herausforderersicherheit schafft den Raum für Widerspruch und Diskussion. Wenn wir merken, dass sich etwas ändern muss und es an der Zeit ist, das auch auszusprechen, hilft sie uns, dem Druck zur Anpassung zu widerstehen. Sie gibt uns die Erlaubnis, kreativ zu sein und Neues zu wagen – als höchste Stufe psychologischer Sicherheit. Sie gleicht das erhöhte Maß an Verletzlichkeit und persönlichem Risiko aus, das mit dem Infragestellen des Status quo verbunden ist.
Wenn wir Herausforderersicherheit schaffen, geben wir Schutzraum – im Austausch für Offenheit. Was ich damit meine? Wir werden geschützt – und sogar belohnt, wenn wir uns verletzlich zeigen, um den Status quo zu hinterfragen.
Timothy R. Clark – Challenger Safety
Psychologische Sicherheit umsetzen
Die vier Stufen psychologischer Sicherheit zu kennen, ist ein wichtiger Anfang – doch entscheidend ist, dass sie auch gelebt werden. Genau hier setzt Timothy Clark an: Organisationen sollen psychologische Sicherheit nicht nur verstehen, sondern konkret umsetzen.
Dafür braucht es einen ganzheitlichen Ansatz: mit klarer Führung, der Einbindung aller Mitarbeitenden und einem kontinuierlichen Lernprozess. Trainings, Workshops und Coaching-Angebote helfen Führungskräften und Teams, eine sichere Arbeitsumgebung zu schaffen und langfristig zu erhalten.
Wichtig ist außerdem, dass auch Leistungsbeurteilungen und Belohnungssysteme zur Kultur psychologischer Sicherheit passen. Wenn Zugehörigkeit, Lernen, Mitgestaltung und mutiges Hinterfragen anerkannt und gefördert werden, wächst eine Kultur, die auf Vertrauen, Entwicklung und Innovation basiert.
Psychologische Sicherheit als Erfolgsfaktor
Psychologische Sicherheit – so wie Timothy Clark sie beschreibt – ist ein wichtiges Werkzeug, um eine inklusive, innovative und leistungsfähige Unternehmenskultur aufzubauen. Wer die vier Stufen versteht und im Alltag lebt, hebt die Potenziale seiner Teams, stärkt das Vertrauen untereinander und schafft die Grundlage für langfristigen Erfolg.
Wichtige Bestandteile sind: engagierte Führung, offene Kommunikation, kontinuierliches Lernen und Wertschätzung von Vielfalt. In einem solchen Umfeld können Menschen authentisch und mutig sein und Unternehmen profitieren von mehr Kreativität, Innovation und Spitzenleistung. Die Etablierung psychologischer Sicherheit ist ein fortlaufender Prozess. Mit seinem Modell kann man eine Arbeitswelt gestalten, in der psychologische Sicherheit nicht nur möglich, sondern gelebter Alltag wird.