Gefährliches Schweigen – Wie fehlende psychologische Sicherheit die allgemeine Sicherheit gefährdet

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Katastrophen, die vermeidbar gewesen wären, bleiben uns lange im Gedächtnis: Die Challenger-Katastrophe 1986 und das Nuklearunglück von Fukushima 2011 sind tragische Beispiele dafür, dass Schweigen in kritischen Momenten verheerende Folgen haben kann. Diese Ereignisse werden in Amy Edmondsons Buch The Fearless Organization als eindrucksvolle Beispiele für die Folgen fehlender psychologischer Sicherheit beschrieben. Ingenieure und Fachleute hatten Warnungen ausgesprochen, doch diese wurden nicht gehört oder ernst genommen. Die Ursachen liegen oft nicht in mangelndem Fachwissen, sondern in einer Kultur der fehlenden psychologischen Sicherheit.

Wenn Mitarbeitende sich nicht trauen, Risiken oder Fehler anzusprechen, entsteht eine gefährliche Dynamik: Probleme werden verschwiegen, Schwachstellen bleiben verborgen, und letztlich wächst die Gefahr schwerwiegender Konsequenzen. Fehlende psychologische Sicherheit gefährdet nicht nur die körperliche und seelische Unversehrtheit, sondern auch die Daten-, Cyber- und KI-Welt.

Psychologische Sicherheit als Grundlage für umfassende Sicherheit

Psychologische Sicherheit beschreibt die Überzeugung, dass man in einer Gruppe seine Gedanken, Ideen und auch Bedenken äußern kann, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese Form von Sicherheit ist die Basis für eine offene Fehlerkultur und fördert die Bereitschaft, Probleme anzusprechen.

Werfen wir einen Blick auf verschiedene Dimensionen von Sicherheit:

  • Physische Sicherheit: Schutz vor Unfällen und Verletzungen am Arbeitsplatz.
  • Psychische Sicherheit: Schutz vor seelischen Verletzungen und Traumata.
  • Daten- und Cybersicherheit: Schutz vor Datenverlust und Cyberangriffen durch offene Kommunikation über Risiken.
  • KI-Sicherheit: Sicherstellung, dass KI-Systeme transparent und korrekt arbeiten, indem Fehler und Halluzinationen gemeldet werden.
  • Organisatorische Sicherheit: Vermeidung interner Fehler und Regelverstöße durch transparentes ungeahndetes Melden von Problemen.

Die Verbindung zwischen diesen Bereichen ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Es ist nicht nur die physische und psychische Unversehrtheit, die durch Schweigen gefährdet ist, auch die digitale und KI-Sicherheit kann erheblich leiden, wenn Probleme nicht rechtzeitig angesprochen werden. Fehlende Kommunikation kann zu gravierenden Sicherheitslücken führen, die sowohl Mensch und Gruppe als auch Maschine gefährden.

Schweigen – Wenn Warnungen ungehört bleiben

Physische und psychische Sicherheit

Beispiel: Physische Sicherheit im Handwerk

Auf Baustellen und im Handwerk sind Sicherheitsvorkehrungen von entscheidender Bedeutung. Doch die Praxis sieht oft anders aus: Ein erfahrener Handwerker bemerkt, dass sein Kollege ohne Schutzbrille an der Kreissäge arbeitet. Er weiß, dass dies ein hohes Risiko darstellt – sowohl für die Augen als auch für die Konzentration und Präzision der Arbeit. Doch anstatt den Kollegen anzusprechen, denkt er: „Der macht das schon seit 20 Jahren so, das wird schon gut gehen.“ Die unausgesprochene Regel, dass „echte Männer keine Schwäche zeigen“, führt dazu, dass Sicherheitsbedenken oft nicht geäußert werden. Ein kleiner Fehler – vielleicht durch Übermüdung oder mangelnde Konzentration – oder ein unvorhergesehene Situation könnte jedoch fatale Folgen haben. Fehlende psychologische Sicherheit verhindert hier ein mutiges konstruktives Feedback.

Beispiel: Physische Unversehrtheit und psychische Folgen

Ein schwerer Unfall am Arbeitsplatz hinterlässt oft nicht nur physische Schäden bei der betroffenen Person, sondern kann auch zu ernsthaften Traumata bei Kolleginnen und Kollegen führen:

Ein Mitarbeiter versucht, eine Arbeit alleine auszuführen, die normalerweise von zwei Personen durchgeführt werden muss. Während er eine elektrische Anlage wartet, kommt es zu einem schweren Stromschlag. Der Kollege, der zufällig in der Nähe ist, sieht, wie der Körper des Verletzten leblos zu Boden sinkt. Blutüberströmt durch die Verletzung, die der Stromschlag verursacht hat.

Geistesgegenwärtig beginnt der Helfer mit Herzmassage und Beatmung und rettet seinem Kollegen das Leben. Doch die Szene brennt sich in sein Gedächtnis ein. Auch Jahre später leidet er unter Albträumen und muss psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, um die belastende Situation zu verarbeiten. Der Unfall hätte vermieden werden können, wenn die Sicherheitsvorschrift – Arbeiten im Zweierteam – eingehalten worden wäre. Doch aus Zeitdruck oder vielleicht auch aus dem Glauben heraus, es „alleine schneller zu schaffen“, wurde die Regel missachtet. Hier zeigt sich eindrücklich, dass nicht nur das Opfer, sondern auch die Retter und Augenzeugen die psychischen Folgen eines solchen Unfalls tragen. Auf Baustellen und im Handwerk sind Sicherheitsvorkehrungen von entscheidender Bedeutung.

Beispiel: Die Challenger-Katastrophe

Am 28. Januar 1986 herrschte eine angespannte Stimmung im NASA-Kontrollzentrum. Das Space Shuttle Challenger stand bereit zum Start, doch hinter den Kulissen gab es ernste Bedenken. Ingenieure des Zulieferers Morton Thiokol hatten gewarnt: Die Temperaturen waren so niedrig, dass die Gummidichtungen der Feststoffraketen spröde werden könnten. Doch die Stimmen der Ingenieure verhallten unter dem Erfolgsdruck. Entscheidungen mussten getroffen werden und der Start wurde freigegeben. 73 Sekunden nach dem Start zerbrach die Challenger in der Luft. Sieben Astronauten verloren ihr Leben. Es war nicht der technische Fehler, der zur Katastrophe führte, sondern die Entscheidung, auf Warnungen nicht zu reagieren. Eine Kultur, die eher auf schnelle Erfolge als auf Sicherheitsbedenken setzt, kann fatale Folgen haben.

Beispiel: Die Fukushima-Katastrophe

Am 11. März 2011 bebte die Erde vor der japanischen Küste. Ein massiver Tsunami traf das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. In den Jahren zuvor hatte es interne Berichte gegeben, die auf Schwachstellen im Kühlwassersystem hingewiesen hatten. Sicherheitsingenieure hatten ihre Besorgnis geäußert, doch die Berichte wurden entweder nicht ernst genommen oder als nicht dringlich eingestuft. Als die Wellen das Kraftwerk trafen, fiel die Kühlung aus. Innerhalb weniger Stunden kam es zur Kernschmelze in mehreren Reaktoren. Die Katastrophe hätte zumindest abgemildert werden können, wenn die Sicherheitsbedenken zuvor beherzigt worden wären. Auch hier zeigte sich: Eine Kultur, in der Ängste nicht offen ausgesprochen werden können, schafft blinde Flecken – mit teils katastrophalen Auswirkungen.

Daten- und Cybersicherheit

In modernen Unternehmen ist Datensicherheit ein zentrales Thema. Häufig bemerken Mitarbeitende Sicherheitslücken oder verdächtige Aktivitäten, sind jedoch unsicher, ob sie diese melden sollen. Die Angst, sich lächerlich zu machen oder als inkompetent zu gelten, verhindert die frühzeitige Erkennung von Gefahren.

Beispiel: Virus im Unternehmensnetzwerk

Ein IT-Mitarbeiter erhält eine E-Mail mit einem vermeintlich harmlosen Anhang von einem bekannten Geschäftspartner. In Eile und ohne genau zu prüfen, öffnet er die Datei. Unmittelbar danach bemerkt er ungewöhnliche Aktivitäten auf dem Netzwerk, eine Verlangsamung und plötzlich unzugängliche sensible Dateien. Schnell dämmert ihm: Der Anhang war verseucht – ein Virus hat sich ins System eingeschlichen.

Doch statt den Vorfall sofort zu melden, bleibt er still. Aus Angst vor persönlichen Konsequenzen und dem Stigma, als IT-Fachmann einen solchen Fehler gemacht zu haben, versucht er, das Problem selbst zu lösen und vertuscht es. Währenddessen breitet sich die Schadsoftware im gesamten Netzwerk aus, verschlüsselt Daten und legt Teile der Infrastruktur lahm. Tage später wird das Problem offiziell entdeckt – mit erheblichen Schäden. Eine frühzeitige Meldung hätte das Ausmaß möglicherweise deutlich verringern können.

Beispiel: Halluzinationen von KI-Systemen

Ein Textgenerierungsmodell liefert eine faktenwidrige Aussage über ein Produkt. Die KI halluziniert technische Spezifikationen, die nicht existieren. Mitarbeitende, die die Fehler erkennen, melden sie jedoch nicht, weil sie fürchten, als inkompetent zu gelten oder die Technologie in Frage zu stellen. Das Ergebnis: Die falsche Aussage wird veröffentlicht und führt zu einem erheblichen Imageschaden. Hier wäre eine offene Meldekultur entscheidend gewesen, um die Fehler rechtzeitig zu korrigieren.

Organisatorische Sicherheit

Auch in der internen Organisation können fehlende Offenheit und eine eingeschränkte Fehlerkultur zu massiven Problemen führen. Wenn Mitarbeitende Fehler aus Angst verschweigen, bleiben Prozesslücken bestehen, die sich später als kritisch erweisen können. Die fehlende Meldekultur schafft einen Raum, in dem sich Probleme verfestigen, bis sie letztlich unkontrollierbar werden.

Beispiel: Qualitätsprobleme in der Produktion

In einem Produktionsbetrieb stellt ein Mitarbeiter fest, dass eine Maschine bei der Fertigung minimale Abweichungen produziert. Er ist sich unsicher, ob die Qualitätskontrolle die Bauteile dennoch akzeptieren wird, und entscheidet sich, die Information nicht weiterzugeben, um keine Probleme zu verursachen. Wochen später zeigt sich: Die fehlerhaften Bauteile haben bereits eine ganze Charge von Produkten unbrauchbar gemacht. Das Unternehmen muss eine teure Rückrufaktion durchführen. Hier hätte eine offene Fehlerkultur dazu beitragen können, den Mangel frühzeitig zu erkennen und zu beheben.

Sicherheitskultur durch psychologische Sicherheit stärken

Kulturwandel

Um Schweigen zu durchbrechen, sollten Organisationen eine Kultur entwickeln, die ehrliche Kommunikation und die offene Benennung von Problemen aktiv fördert. Dabei reicht es nicht aus, Fehler lediglich zu tolerieren, es muss geradezu attraktiv sein, Sicherheitsprobleme anzusprechen.

In einer solchen Kultur ist es nicht nur akzeptabel, sondern ausdrücklich erwünscht, auf Risiken hinzuweisen. Dabei spielt die Haltung des Unternehmens eine entscheidende Rolle: Wer Sicherheitsprobleme meldet oder auf potenzielle Gefahren aufmerksam macht, darf keine Sanktionen befürchten. Im Gegenteil: Diese Offenheit sollte ausdrücklich anerkannt und wertgeschätzt werden.

Auch für denjenigen, der auf ein Problem aufmerksam gemacht wird, muss klar sein: Das ist keine persönliche Kritik, sondern ein Beitrag zur Sicherheit aller. Diese Bereitschaft zur Selbstreflexion sollte ebenfalls positiv hervorgehoben werden, denn die Tatsache einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, ist für den Verursacher oft schon beschämend genug.

Um eine solche Kultur zu entwickeln, braucht es Ermutigung und Vorbilder. Führungskräfte können aktiv aufzeigen, dass Meldungen nicht nur geduldet, sondern als wertvoller Beitrag zur Verbesserung wahrgenommen werden. So entsteht ein Umfeld, in dem sowohl die Meldung von Risiken als auch der konstruktive Umgang mit Fehlern zur gelebten Praxis werden.

Mögliche Maßnahmen

  • Einführung von Sicherheitskreisen, in denen alle Mitarbeitenden sicher und unsanktioniert Bedenken äußern können.
  • Transparentes Aufzeigen möglicher Folgen für alle Beteiligten.
  • Fehlerkultur stärken, indem Fehler als Lernchance und nicht als Anlass für Schuldzuweisungen betrachtet werden.
  • Führungskräfte als Vorbilder, die über ihren Schatten springen, aktiv um Feedback bitten und eigenes Fehlverhalten transparent machen.
  • Schulungen zur Förderung von Fehlerfreundlichkeit und Kommunikationsoffenheit.
  • Etablierung klarer Meldeprozesse für Sicherheitsbedenken.

Mut zur Stimme

Psychologische Sicherheit ist eine zentrale Voraussetzung, um umfassende Sicherheitsmaßnahmen zu gewährleisten. Schweigen gefährdet nicht nur die körperliche und seelische Unversehrtheit, sondern auch die Cyber-, Daten- und KI-Sicherheit sowie die organisatorische Integrität.

Führungskräfte sollten aktiv daran arbeiten, eine offene und vertrauensvolle Kommunikationskultur zu schaffen. Nur so können Risiken rechtzeitig erkannt und adressiert werden, bevor aus potenziellen Problemen ernsthafte Gefahren werden.

Eine Kultur, die psychologische Sicherheit fördert, schützt nicht nur die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden, sondern auch die Reputation und den Fortbestand des Unternehmens.

Mut zur Stimme ist der Schlüssel zu umfassender Sicherheit.

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