Warum bringen sich manche Menschen mit Begeisterung, Kreativität und ganzer Persönlichkeit in ihre Arbeit ein, während andere sich zurückziehen, nur das Nötigste tun oder innerlich längst gekündigt haben? Diese Frage beschäftigt Unternehmen, Führungskräfte und Coaches seit Jahrzehnten.
Eine der schlüssigsten Antworten liefert William A. Kahn in seiner Studie Psychological Conditions of Personal Engagement and Disengagement at Work (1990). Er zeigt: Ob Menschen sich engagieren, hängt nicht allein von Motivation oder Persönlichkeit ab, sondern maßgeblich von den psychologischen Bedingungen, die sie bei der Arbeit erleben.
Kahn untersuchte in seiner Studie zwei sehr unterschiedliche Settings: ein Sommercamp für Jugendliche und ein Architekturbüro. Trotz aller Unterschiede zeigte sich, dass psychologische Sicherheit in beiden Umgebungen eine wichtige Voraussetzung für echtes Engagement war.
Die Entscheidung: Zeige ich mich oder schütze ich mich?
Kahns Grundannahme ist einfach und zugleich wichtig: Menschen entscheiden in jedem Moment neu, ob und wie sehr sie sich selbst in ihre Arbeitsrolle einbringen. Sie können präsent, kreativ und authentisch sein oder sich emotional, geistig und körperlich zurückziehen. Dieses Wechselspiel nennt Kahn persönliches Engagement (Einbringung und Ausdruck bevorzugter Selbstanteile) bzw. persönliches Disengagement (Rückzug und Schutz).
Er identifiziert drei psychologische Bedingungen, die persönliches Engagement begünstigen:
- Bedeutsamkeit: Wie sinnvoll ist es für mich, mich einzubringen?
- Sicherheit: Wie sicher ist es für mich, mich hier zu zeigen?
- Verfügbarkeit: Habe ich die inneren Ressourcen, um mich einzubringen?
Diese drei Bedingungen wirken zwar zusammen, doch im Fokus dieses Beitrags steht das Thema psychologische Sicherheit.
Was heißt psychologische Sicherheit in diesem Kontext?
Psychologische Sicherheit bedeutet: Ich kann in meinem Team, in dieser Rolle, in diesem Moment ganz ich selbst sein – ohne Angst vor Demütigung, Ablehnung oder Bestrafung. Psychologische Sicherheit ist eine subjektive Wahrnehmung, geprägt durch Erfahrungen, Beziehungsmuster und organisationale Kultur. Dort, wo sie spürbar ist, entsteht Raum für echtes Engagement, mutige Ideen, offenes Lernen und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Wo sie fehlt, regieren Vorsicht, Zynismus und Rückzug.
Die vier zentralen Einflussfaktoren psychologischer Sicherheit
Kahns Studie zeigt: Psychologische Sicherheit entsteht nicht zufällig, sie ist das Ergebnis von konkreten sozialen und strukturellen Bedingungen. Vier Faktoren beeinflussen sie besonders stark:
1. Zwischenmenschliche Beziehungen
Menschen fühlen sich dort sicher, wo Beziehungen auf Vertrauen, Respekt und Verlässlichkeit beruhen. In solchen Beziehungen…
- darf man Fehler machen, ohne ausgelacht zu werden,
- darf man um Hilfe bitten, ohne als inkompetent zu gelten,
- darf man eine eigene Meinung haben, ohne ausgeschlossen zu werden.
Beispiel:
Eine Camp-Betreuerin, die mit ihrem Kollegen ein perfektes Team bildete:
„Wir greifen nahtlos ineinander. Wenn einer einen Fehler macht, springt der andere ein – ohne Ego-Spielchen. Das gibt mir die Freiheit, auf meine Art zu unterrichten.“
Anders fühlte sich ein Zeichner im Architekturbüro gegenüber seinem Vorgesetzten:
„Ich bin vorsichtig mit ihm. Er klingt oft scharf, ich spüre Distanz. Solange ich nicht weiß, wie ich besser mit ihm umgehen kann, halte ich mich lieber zurück.“
Hier zeigen sich Machtunterschiede: Je größer das Machtgefälle, desto größer das Risiko sich zu zeigen. Misstrauen, Abwertung oder Unberechenbarkeit zerstören Sicherheit – und damit auch Engagement.
Was heißt das für die Praxis?
Teams sollten offen über ihre Beziehungskultur sprechen. Führungskräfte sind gefordert, aktiv sichere Räume zu gestalten – durch aktives Zuhören, wertschätzendes Feedback und empathisches Verhalten, insbesondere in Konflikten.
2. Gruppen- und Intergruppendynamiken
In jedem Team existieren informelle Rollen und implizite Dynamiken: Wer gehört dazu? Wer hat Einfluss? Wer wird ernst genommen und wer nicht?
Die Studie zeigt: Psychologische Sicherheit leidet besonders dort, wo Menschen sich in ihrer Position bedroht oder abgewertet fühlen, etwa durch stigmatisierende Zuschreibungen („der Chaot“, „die Schwierige“) oder unausgesprochene Ausschlussmechanismen. Einige Mitarbeitende wurden beispielsweise bevorzugt („Lieblingsmitarbeiter“), andere subtil ausgegrenzt („schwarzes Schaf“). Wer nicht zur „Kerntruppe“ gehörte, zeigte sich seltener, sagte weniger, brachte kaum Ideen ein.
Beispiel:
In einem Architekturbüro wurde der Chef als patriarchale Figur beschrieben. Eine kleine Gruppe war eng mit ihm verbunden – andere fühlten sich wie Zaungäste.
Auch soziale Kategorien wie Geschlecht, Alter, Erfahrung oder Herkunft können zur Spaltung führen. Eine weibliche Betreuerin berichtete, wie sie durch die Flirtversuche männlicher Kollegen in ihrer Rolle untergraben wurde: „Ich musste dann die Zicke sein. Wenn ich locker geblieben wäre, hätten mich die Kids nicht ernst genommen.“
Was heißt das für die Praxis?
Teams sollten sich regelmäßig Zeit nehmen, Gruppendynamiken zu reflektieren: Wer hat welche Stimme? Wer wird häufig unterbrochen? Wem hört man zu? Wer wird ignoriert? Diese Muster sichtbar zu machen ist der erste Schritt zu mehr psychologischer Sicherheit für alle.
3. Führungsverhalten und Managementstil
Kahn macht deutlich: Führung prägt psychologische Sicherheit unmittelbar. Nicht durch schöne Worte, sondern durch Verhalten. Durch Tonfall, Verlässlichkeit, Umgang mit Fehlern, und den gelebten Umgang mit Macht.
Beispiel:
Ein Architekt berichtete, wie sein Vorgesetzter ihm eine Aufgabe gab – und dann alles eigenmächtig änderte:
„Der Chef gibt dir eine Aufgabe und dann geht er los und ändert alles wieder. Du weißt nie, woran du bist und ob er hinter dir steht.“
Diese Unberechenbarkeit sorgte für Vorsicht, Kontrolle und innere Distanz.
Auch der Umgang mit Fehlern war zentral: Ein Camp-Mitarbeiter beobachtete, wie der Direktor Kinder vor allen bloßstellte:
„Ich traue ihm nicht. Wenn er in der Nähe ist, halte ich lieber den Mund.“
Implikation für Führung:
Psychologische Sicherheit entsteht, wenn sich Mitarbeiter ausprobieren und Fehler machen dürfen und Einfluss auf ihre Arbeit haben. Führung muss kalkulierbar, menschlich und konsequent sein. Klare Erwartungen, Raum für Rückfragen, respektvoller Umgang mit Fehlern und konsistentes Verhalten stärken das Gefühl von Stabilität, auch in unsicheren Zeiten.
4. Organisationale Normen und kulturelle Spielregeln
Neben Beziehungen und Führung beeinflussen auch die unausgesprochenen Spielregeln einer Organisation, wie sicher sich Menschen fühlen. Diese Normen zeigen sich darin, was „geht“ – und was nicht:
- Wie wird mit Fehlern umgegangen?
- Dürfen alle mitreden – oder nur die Lauten?
- Wird Kritik gehört – oder abgestraft?
- Darf man Emotionen zeigen?
- Muss man sich ständig beweisen?
Kahn zeigt: Wer das Gefühl hat, sich anpassen zu müssen, um dazuzugehören, wird vorsichtig. Wer permanent überlegt, wie er oder sie „richtig“ rüberkommt, kann sich nicht einbringen. Es fehlt der Freiraum für Authentizität.
Beispiel:
Ein Zeichner berichtete, dass er sich oft zurückhielt, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.
„Wenn ich zu kreativ werde, such ich schnell jemanden, der mir sagt, ob der Chef das gut fände.“
Seine Rolle war erfüllt, aber er war nicht mehr er selbst. Oder: Ein Betreuer im Camp wollte Kindern mehr Freiraum geben:
„Ich hab’s probiert, aber andere Betreuer haben mir reingeredet. Also hab ich aufgehört. Ist einfacher, gleich der harte Hund zu sein“.
Die Folge: Anpassung, Rückzug, innerer Ausstieg.
Was heißt das für die Praxis?
Organisationen sollten nicht nur über Innovation, Diversität oder Menschlichkeit reden, sondern sie konkret machen. In Prozessen, in Ritualen, in Sprache. Nur so entsteht ein Klima, in dem Menschen sich trauen, ganz selbst zu sein.
Fazit: Psychologische Sicherheit ist ein wichtiges Fundament für Leistung
William A. Kahns Studie macht eines klar: Engagement ist kein Charakterzug, sondern eine Antwort auf die Umgebung. Menschen entscheiden in jedem Moment neu, ob sie sich mit ihrem Selbst in ihre Arbeit einbringen oder nicht. Psychologische Sicherheit ist eine wichtige Grundlage, auf der diese Entscheidung steht.
Sicherheit entsteht nicht durch nette Worte, sondern durch:
- verlässliche Führung,
- unterstützende Beziehungen,
- reflektierte Gruppendynamiken,
- und kulturelle Räume, in denen Menschen sich zeigen dürfen.
Wer Engagement will, muss Sicherheit gestalten.