Du sitzt in einem wichtigen Meeting. Dein Chef kritisiert plötzlich deine Arbeit scharf und unerwartet. Dein Puls beschleunigt sich, die Gedanken rasen und du spürst die Hitze in deinem Gesicht. Du möchtest etwas entgegnen, aber stammelst hektisch nur ein paar Worte, die nicht klar herauskommen wollen. Du spürst Wut, Angst und Verunsicherung, was als Nächstes passieren wird. Dies ist ein typisches Beispiel für Hyperarousal: Dein System schaltet in den Überlebensmodus – Fight or Flight.
Du bist in einem Workshop und sollst spontan eine Idee präsentieren. Obwohl du vorbereitet bist, merkst du, wie dein Kopf plötzlich völlig leer ist. Die anderen Teilnehmer schauen dich erwartungsvoll an, aber du fühlst dich wie erstarrt. Deine Gedanken sind wie eingefroren, und obwohl du reden willst, bringst du kein einziges Wort heraus. Dies ist ein Zustand von Hypoarousal: Dein Körper fährt herunter und blockiert die Handlung – Freeze.
Solche Reaktionen sind menschlich und treten vor allem dann auf, wenn wir unser sogenanntes Window of Tolerance, das Stresstoleranz Fenster verlassen. Doch was genau bedeutet das und warum ist es so wichtig, diese Zustände zu erkennen und zu regulieren? Im Folgenden gehen wir diesen Fragen näher auf den Grund.
Das Stresstoleranz Fenster oder Window of Tolerance
Das Konzept des „Window of Tolerance“ wurde von Dr. Dan Siegel in seinem Buch The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are eingeführt und beschreibt die optimale Erregungszone, in der eine Person mit den Höhen und Tiefen des Lebens gut umgehen kann. Innerhalb dieses Fensters bleibt eine Person emotional ausgeglichen, rational und vor allem handlungsfähig. Sobald jedoch Stress oder Belastungen zunehmen, kann die Person entweder in einen Zustand von Hyperarousal (Übererregung) oder Hypoarousal (Untererregung) fallen.
Was passiert im Gehirn und im vegetativen Nervensystem?
Das vegetative Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus
Das vegetative Nervensystem ist darauf ausgelegt, die Grundfunktionen des Körpers aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf achten oder nicht. Es übernimmt die automatische Regulation, um den Körper am Leben zu halten und schnell auf Veränderungen in der Umgebung zu reagieren.
Das vegetative Nervensystem steuert unbewusst die lebenswichtigen Körperfunktionen und besteht aus zwei Hauptkomponenten: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Diese beiden Systeme arbeiten antagonistisch und autonom und sorgen für eine Balance zwischen Aktivierung (Sympathikus) und Beruhigung (Parasympathikus).
Der Sympathikus und Parasympathikus im Hyper- und Hypoarousal
- Bei Hyperarousal ist der Sympathikus dominant aktiv. Der Körper befindet sich im Kampf- oder Fluchtmodus (Fight-or-Flight). Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet, die Herzfrequenz steigt, und der Körper ist in Alarmbereitschaft. Dies ist ein Zustand fast vollständigen Stresses, in dem die Ruhe fast vollständig verloren geht.
- Bei Hypoarousal hingegen ist der Parasympathikus aktiv. Dies führt zur Aktivierung des „Freeze-Modus“ oder zum Rückzug. Der Körper fährt in einen Energiesparmodus, die Herzfrequenz sinkt, und die Person wirkt apathisch oder emotional taub. In dieser Phase dominiert die Erstarrungsreaktion als Bewältigungsstrategie gegenüber überwältigendem Stress.
Diese Mechanismen erklären, warum Menschen in Stresssituationen entweder aktiv (Hyperarousal) oder passiv (Hypoarousal) reagieren können, je nachdem, welches System gerade dominiert.
Die Rolle des Vagus-Nervs bei der Beruhigung
Der Vagus-Nerv ist der Hauptakteur des Parasympathikus und erstreckt sich vom Gehirn über den Hals bis in den Bauchraum. Er reguliert Herzschlag, Atmung und Verdauung und hat eine beruhigende Wirkung auf Körper und Geist. Eine Stimulierung des Vagus-Nervs hilft dabei, Stress abzubauen und in das Toleranzfenster zurückzukehren. Einige Übungen zur Aktivierung des Vagus-Nervs findest du weiter unten.
Hyperarousal – Der Kampf- oder Fluchtmodus
Wenn wir in einen Zustand von Hyperarousal geraten, wird das sympathische Nervensystem aktiviert. Dies führt zu einer Überstimulation, die als Kampf- oder Fluchtreaktion bekannt ist. Das Gehirn schaltet in den Überlebensmodus: Die Amygdala übernimmt die Kontrolle und das rationale Denken im präfrontalen Kortex wird stark heruntergefahren. Symptome sind unter anderem:
- Wut, Gereiztheit
- Hypervigilanz (ständige Aufmerksamkeit)
- Angst, Panik
- Unruhige Gedanken, motorische Unruhe
Hypoarousal – Der Erstarrungsmodus
Im Gegensatz dazu tritt bei Hypoarousal eine Art „Abschalten“ ein, ausgelöst durch die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems. Hier dominiert der „Freeze-Modus“: Die Stresshormone werden reduziert, die Herzfrequenz sinkt und das System fährt in eine Art Energiesparmodus herunter. Das Gehirn reagiert mit einem Rückzug in tiefere Hirnregionen. Dies führt zu:
- Antriebslosigkeit
- Erschöpfung
- Apathie
- Emotionaler Taubheit
Individuelle Unterschiede im Stresstoleranz Fenster
Jeder Mensch hat ein unterschiedlich breites Window of Tolerance, das von Faktoren wie Kindheitserfahrungen, Resilienz, aktuellen Lebensumständen und Tagesform beeinflusst wird. So kann eine stressreiche Woche oder eine belastende Nachricht das Fenster verengen. Auch Traumaerfahrungen können dazu führen, dass Menschen besonders empfindlich auf Stress reagieren und schneller „aus dem Fenster fallen“.

Auswirkungen des Window of Tolerance auf die psychologische Sicherheit in Gruppen
Psychologische Sicherheit beschreibt das Vertrauen, dass man in einer Gruppe offen sprechen und Fehler machen kann, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Wenn Teammitglieder in den Hyper- oder Hypoarousal-Zustand geraten, wird diese Sicherheit gefährdet. Dies zeigt sich folgendermaßen:
- Hyperarousal: Überreaktionen, impulsive Vorwürfe, destruktives Konfliktverhalten. Beispiel: Nach einer langen Phase hoher Arbeitsbelastung reagiert ein Teammitglied plötzlich aggressiv auf eine kleine Kritik. Die Person fühlt sich überfordert und kann die eigene Erregung nicht mehr regulieren.
- Hypoarousal: Rückzug, Schweigen, fehlende Partizipation. Beispiel: Nach einem Trauerfall im privaten Umfeld zieht sich ein Teammitglied deutlich zurück, wirkt apathisch und vermeidet die aktive Teilnahme an Meetings.
- Langanhaltender Stress: Wenn eine Gruppe über längere Zeit unter Druck steht, können Mitglieder entweder in den Kampfmodus (Hyperarousal) oder in den Rückzugsmodus (Hypoarousal) fallen. Beispiel: Ein Projektteam arbeitet seit Monaten unter engen Deadlines. Einige Mitglieder reagieren gereizt und impulsiv (Hyperarousal), während andere kaum noch Ideen einbringen und sich passiv verhalten (Hypoarousal).
Der offene Umgang mit Belastungen
Ein offener Umgang mit Belastungen und persönlichen Krisen kann den Druck im Team reduzieren. Wenn in einer Gruppe offen und transparent über Stress gesprochen wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Mitglieder alleine, isoliert oder unverstanden fühlen. Vorgesetzte sollten Raum für solche Gespräche schaffen und auch andere Abteilungen sowie Führungskräfte dafür sensibilisieren. Dies schafft Verständnis und kann die Zusammenarbeit verbessern. Der Austausch mit anderen Teams oder Abteilungen über aufkommende oder vorhandene Stressoren kann ebenfalls entlastend wirken und die Perspektive erweitern.
Offene Kommunikation über emotionale Belastungen ist tatsächlich kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Resilienz und gegenseitiger Unterstützung. Eine Unternehmenskultur, die dies fördert, schafft ein sicheres und stabiles Umfeld, in dem auch das Erwähnen von Stress und Überlastung ihren Raum finden dürfen.
Gefahren des Verlassens des Stresstoleranz Fensters
Das häufige Verlassen des Window of Tolerance birgt die Gefahr, dass Konflikte eskalieren oder, im Gegenteil, wichtige Themen nicht mehr angesprochen werden. Beides kann mittel bis langfristig die Zusammenarbeit stören und zu Frustration und Demotivation führen.
Maßnahmen zur Regulation und Selbstregulation
Um in belastenden Situationen im Toleranzfenster zu bleiben, sind konkrete und leicht umsetzbare Techniken besonders hilfreich:
Beruhigungstechniken bei Hyperarousal
- Atemübungen:
- Die 4-7-8-Methode: Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen. Wiederhole diesen Zyklus mindestens viermal.
- Wechselatmung: Halte ein Nasenloch zu, atme tief durch das andere ein, wechsle die Seite und atme aus.
- Musik und Klang:
- Ruhige Musik mit langsamen Rhythmen hilft, den Puls zu beruhigen.
- Summen oder leises Singen stimuliert durch die Vibration im Hals den Vagus-Nerv.
- Körperliche Regulation:
- Eine Hand auf den Bauch legen und bewusst tief in den Bauch atmen.
- Kaltes Wasser ins Gesicht oder ein kalter Waschlappen im Nacken aktiviert den Tauchreflex und beruhigt.
Aktivierungstechniken bei Hypoarousal
- Bewegung:
- Eine Runde spazieren gehen oder leichte Dehnübungen machen.
- Einfache Bewegungen wie Arme kreisen oder Kniebeugen helfen, den Kreislauf anzuregen.
- Sinnesstimulation:
- Einen starken Geschmack (z.B. Zitronenbonbon) im Mund wahrnehmen.
- Hände kräftig reiben oder klatschen, um die Durchblutung anzuregen.
- Soziale Interaktion:
- Mit jemandem sprechen oder eine kurze Nachricht an eine vertraute Person senden.
Langfristige Prävention
- Achtsamkeitstraining:
- Regelmäßige Meditation und Atemübungen stärken die Selbstwahrnehmung und die innere Ruhe.
- Therapeutische Unterstützung:
- Eine kontinuierliche Begleitung durch Coaching oder Therapie kann helfen, das eigene Toleranzfenster zu erweitern.
- Teamentwicklung:
- Gemeinsame Achtsamkeitsübungen im Team stärken die kollektive Resilienz.
Fazit
Das Window of Tolerance bietet ein wichtiges Verständnis für die Balance zwischen Stressbewältigung und emotionaler Sicherheit. Insbesondere in Teams kann die Fähigkeit, im eigenen Fenster zu bleiben, die psychologische Sicherheit stärken. Führungskräfte sollten Techniken zur Emotionsregulation fördern, um eine konstruktive und resiliente Teamkultur zu schaffen.